Erfahrungsbericht

„Noch ein Jahr Portugal, noch ein Jahr Waldorf. Noch mehr Pädagogik, mehr Portugiesisch. Ich freue mich drauf.“ Wenn aus einem Jahr direkt zwei werden, sagt das wohl schon alles über Wenckes Freiwilligendienst an einer portugiesischen Waldorfschule aus.

Wenckes Freiwilligendienst in Portugal

Das war es nun also. Ein Jahr Waldorfschule, ein Jahr Portugal, ein Jahr Pädagogik. Was für ein Jahr. Eine Achterbahn der Gefühle. Nun ja, Achterbahn ist vielleicht ein wenig dramatisch ausgedrückt.
Das Level meines geforderten Verantwortungsbewusstseins blieb auch in der zweiten Hälfte meines FSJs an der Escola Livre Do Algarve im Süden Portugals recht hoch. Die Arbeit in der ersten Klasse vertiefte sich noch, auch die Betreuung unseres „besonderen“ Erstklässlers nahm weiter zu. Jedoch merkte ich schnell, wie ich an meinen Aufgaben innerhalb des Jahres gewachsen bin. Was mir am Anfang Bauchschmerzen und Nervenzusammenbrüche verursachte, schaffte ich nun ohne weiteres. Mit links und vierzig Fieber schon fast. Gegenüber den Kindern hatte ich mir fast so etwas wie eine natürliche Autorität aufgebaut. Auch merkte ich, wie ich eine eigene pädagogische Identität entwickelte.


Diese entstand hauptsächlich durch die tägliche Begleitung der Erstklässler in ihrem Hauptunterricht, bei dem ich quasi „von Beginn an“ mit ihnen zusammen lernte und ihrem Klassenlehrer den einen oder andere Trick abschauen konnte. Vor allem die letzten Monate in meiner Einsatzstelle waren stark geprägt von meiner eigenen Suche nach dieser pädagogischen Identität. Oft setzte ich mich mit einzelnen Pädagogen zusammen, national, sowie international und sprach über Grundschulformen, Kinder, Observationen und Pädagogikmodelle. Ich begann, Bücher über die Waldorfpädagogik zu lesen, überraschenderweise sogar auf Portugiesisch.
Die allergrößte Überraschung für mich selber jedoch war, dass sich im Laufe dieses Jahrs eindeutig herauskristallisierte, dass ich mit Kindern arbeiten möchte. Wo ich am Anfang noch sagte, dass ich mir das niemals werde vorstellen können, auf gar keinen Fall, steht nun der Wunsch nach einem Grundschulpädagogikstudium. Vielleicht sogar eine Klassenlehrerausbildung im Waldorfbereich.


Etwas, was ich an der Escola Livre Do Algarve eindeutig gelernt habe, ist die Freude und die Faszination an der Arbeit mit Kindern. Die Begegnung auf Augenhöhe, das Herantasten und Erfinden eines eigenen Umganges mit Lehren und Lernen und die Schönheit dieser Symbiose, die man mit den Kindern eingeht. Am meisten habe ich von den Kindern gelernt innerhalb dieses Jahrs. Dennoch habe ich auch gelernt, dass es nicht immer einfach ist. Oft habe ich mehr als ein Kind auf meiner Schulter nach Hause getragen, habe mir den Kopf zerbrochen, über dieses und jenes. Habe ich hier richtig reagiert? Ist das in Ordnung so gewesen? Warum hat er/sie das gesagt/getan/gemacht?


Meine Betreuerin hat mir am Anfang des Jahres gesagt, dass Kinder wie kleine Oktopoden sind. Sie saugen sich an Personen fest und ziehen Energie; manche verschwinden von selbst wieder, aber andere muss man erst abstreifen, um nicht völlig leergesaugt zu werden. Wie recht sie damit hatte, habe ich erst im Laufe des Jahres begriffen.
Ein weiteres Ziel, was ich mir für die zweite Hälfte meines Jahres gestellt hatte, war ja die Portugiesische Sprache gewesen. Und ich muss sagen… ich bin ziemlich stolz. Ich bin ohne ein Wort Portugiesisch gekommen, habe mit den Kindern in der Schule angefangen, zu lernen und jetzt, jetzt spreche ich so gut, dass ich souverän in Portugal überleben kann. Ich kann einkaufen, zum Finanzamt, in die Autowerkstadt, sogar einen Sommerjob an der Rezeption eines Campingplatzes konnte ich annehmen (selbstverständlich nach Ablauf meiner Dienstzeit), ohne jemals Probleme zu bekommen. Und das nach einem Jahr. Auch mein Englisch ist eigenständiger geworden. Und hier und da verstehe ich sogar die Spanier. Eine bunte Sprachenvielfalt, der ich in Zukunft noch nachzugehen gedenke. Denn Überraschung, Überraschung, man bot mir einen Job an. Ein kleines Waldorfkindergartenprojekt, ins Leben gerufen von engagierten Eltern, suchte eine Unterstützung und fragte mich. Das ist es nun also, noch ein Jahr Portugal, noch ein Jahr Waldorf. Noch mehr Pädagogik, mehr Portugiesisch. Ich freue mich drauf.


Dieses Jahr hat mir so viel über mich selbst beigebracht, zumeist im positiven Sinne. Ich bin sehr dankbar für die Möglichkeit, an diesem Ort, in diesem Land, mit diesen Leuten, zu lernen, zu lehren und zu leben. Ich bin dankbar für jeden Teller Abwasch, für jeden Eintopf, den ich aufteilen musste, für alle Häkelarbeiten, die ich gerettet habe, für jeden Vortrag, den ich hören durfte und jede Lehrerkonferenz, die ich miterleben durfte.
Mitnehmen werde ich vor allem meine Eigen- und Selbstständigkeit, denn die kann ich mir gar nicht mehr wegdenken. Obwohl ich anfangs ins kalte Wasser geworfen wurde, habe ich einen Weg gefunden, bin über sämtliche Steine geklettert, die auf meinem Weg lagen, habe Portugiesisch gelernt und (fast) alle Krisen durchgestanden. Ich habe Läuse gehabt, habe orange Suppe gegessen (jeden Tag…). Ich bin alleine hergekommen und habe mir ein Leben aufgebaut. Und ich bin stolz.

Am Abschluss meines Sozialen Jahres stand eine sehr lange, reflektierte Schlussbetrachtung, die mein Mitfreiwilliger und ich mit dem gesamten Team vornahmen. Hier sprachen wir positive und auch negative Aspekte an und wie auch von Anfang an, wurden unsere Kommentare und Argumente wertvoll und wertschätzend auf- und angenommen.
Kommunikation ist und war der Schlüssel, das werde ich auch mitnehmen. Nirgendwo bin ich bisher auf eine derartig wertschätzende und respektvolle Umgebung gestoßen, wie ich sie hier vorfand. Davon werden auch die Freiwilligen profitieren, die nach uns kommen.

Trotz Krisen, Läusebefall und orangener Suppe war es ein unglaubliches Jahr. Viele Erinnerungen werden für immer bleiben, so wie vermutlich auch die Berufsprägung. Hätte ich dieses Jahr nicht gehabt, wer weiß, was ich dann jetzt machen wollen würde. Wo ich jetzt wäre? Zumindest nicht in Portugal.
Wer ich jetzt wäre? Immer noch Wencke, aber eine andere Wencke. Vermutlich nicht so souverän, nicht so selbstständig. Ich werde mich noch viel verändern, aber innerhalb der letzten zwölf Monate habe ich einen Sprung gemacht, der für mich selbst schwer nachvollziehbar ist. Raus aus der Schule, rein ins Leben. Richtig arbeiten, anpacken, wirklich was Sinnvolles machen. Ich bin sehr dankbar für diese Möglichkeit.
Erfahrungen fürs Leben, Krisenbewältigungsstrategien fürs Leben, Freunde fürs Leben. Portugal als eine Heimat, die ich nie verlieren werde.