Erfahrungsbericht
Was mit einer Facebook Werbeanzeige begann, führte Anthony zum Studium in die USA. Neun Semester ist er in Iowa zur Uni gegangen. Nach einem Eiltermin fürs Visum an Weihnachten, dem Ankommen bei -11°C und anfänglichem Heimweh fand er ein „home away from home“.
Anthonys Auslandsstudium in den USA
Hallo zusammen,
Ich heiße Anthony und bin 24 Jahre alt. Ich habe über neun Semester, von Januar 2020 bis Mai 2024, ein Auslandstudium in den USA im Bundesstaat Iowa absolviert. Die Universität, bei der ich war, heißt Dordt University und liegt im beschaulichen Örtchen Sioux Center, in der nordwestlichen Ecke des Staates. Dort habe ich Business Administration und Economics, aka BWL und VWL, studiert und währenddessen für die Uni-Mannschaft Baseball gespielt. Es war ein riesiger Kulturschock in allen Belangen für jemanden, der sein Leben lang in einer Großstadt (in meinem Fall, Bonn) gewohnt hat, aber u.a. deswegen eine unglaubliche persönliche Bereicherung, vom Vorteil eines ausländischen Studienabschlusses ganz abgesehen.
Wie alles begann…
Die ersten Ansätze meines Plans, in den USA zu studieren, haben sich schon recht früh gebildet, als ich ungefähr in der 11. Klasse war. Damals wollte ich vor allem College-Baseball, also Baseball für die Mannschaft einer Universität, spielen, um mich sportlich weiterzuentwickeln, da das Niveau in den USA, dem Mutterland dieser Sportart, deutlich höher ist als in Deutschland.
Dann habe ich mehr oder weniger durch Zufall Anfang 2019 auf Facebook eine Anzeige für ein zweiwöchiges Programm gesehen, bei dem internationale Baseballspieler in die USA fliegen konnten, um sich dort vor amerikanischen College-Trainern zu präsentieren und von ihnen für die Mannschaft der Universität rekrutiert zu werden. An diesem Programm habe ich teilgenommen und war die ersten beiden Wochen des Oktobers 2019 in Arizona, wo ich dann ein Angebot der Dordt University erhalten habe. Ich bin also erst knapp 3 Monate vor Studienbeginn mit meiner Universität in Kontakt gekommen. Daraufhin stand ich gleichzeitig mit dem Assistenz-Trainer der Mannschaft, der mich rekrutiert hatte, und einem Angestellten des „International Admissions Office“ in Kontakt, um meine Bewerbung und das Stipendium für das Studium zu organisieren. Dafür musste ich u.a. einen TOEFL-Sprachtest und eine SAT-Test bestehen. Letztendlich habe ich jeweils ein sportliches und akademisches Stipendium und einen „International Student Grant“ erhalten, die zusammen ca. 60% meiner Studiengebühren gedeckt haben.
Damit stand fest, dass ich die Universität besuchen würde, also brauchte ich noch ein Studentenvisum, wozu ich einen Eiltermin über die Weihnachts- und Neujahresfeiertage bei der US-amerikanischen Botschaft in Frankfurt vereinbaren musste, da mein Semester am 8.1.2020 beginnen würde, ich aber erst ca. 3 Wochen vorher zugesagt hatte. Zum Glück kam mein Pass mit Visum und dem zugehörigen I-20 am 8.1 per Post, also konnte ich, zwar mit bereits drei verpassten Schultagen, am 11.1 die Reise antreten. Im Gepäck hatte ich vor allem Kleidung, Sport- und Schulsachen. Insgesamt hatte ich zwei Koffer und Handgepäck dabei, mit denen ich die fast 24-stündige Reise von Bonn nach Sioux Center angetreten bin.
Ankommen in Eiseskälte
Am Flughafen in Sioux Falls, South Dakota angekommen, wurde ich erstmal von der Eiseskälte des berüchtigten Winters im mittleren Westen begrüßt. Durch die sich immer wieder öffnenden Ausgangstüren direkt bei der Gepäckabholung strömte jedes Mal die -11°C-kalte Luft hinein; eine Kälte, die bis auf die Knochen geht, und den Winter in Deutschland fast wie Sommer wirken lässt. Der Assistenztrainer, der mich auch rekrutiert hatte, holte mich ab und nach dem Verlassen der Stadt fuhren wir ca. eine Stunde lang durch was mir als die Definition von mitten im Nirgendwo vorkam, teilweise 30 km wortwörtlich geradeaus, nachts, von fast nichts als Feldern umgeben, alle paar Kilometer an einem Haus oder einem kleinen Geschäft vorbeifahrend, bis wir dann in Sioux Center ankamen.
Auf dem Campus wurde ich direkt von einem meiner neuen Teamkollegen begrüßt, der im gleichen Flur wie ich wohnte. Mir war im Voraus ein Zimmer in einem der Dorms (kurz für „Dormitories“, soviel wie Schlafsaal) auf dem Campus zugeteilt worden. An meiner Uni lebt man in der Regel die ersten zwei Jahre in Dorms, wo man sich ein Zimmer mit jemand anderem teilen muss und die letzten zwei Jahre in Apartments, ebenfalls auf dem Campus, die man sich mit drei bis fünf anderen Studenten teilen muss. Ich hatte Glück und musste mir die drei Semester, die ich in den Dorms gelebt habe, nie ein Zimmer teilen, da die Zimmer ziemlich klein waren und es zu zweit auf jeden Fall sehr eng geworden wäre. In den Apartments habe ich mir aber über sechs Semester ein Zimmer geteilt und obwohl die mangelnde Privatsphäre mich manchmal gestört hat, war es doch eine gute Lektion darin, auf die Bedürfnisse Anderer einzugehen und auch respektvoll mit geteiltem Platz umzugehen. Manchmal haben mich die Gewohnheiten meiner Zimmergenossen gestört, genauso wie meine manchmal sie gestört haben, aber da man sich den Platz teilen musste, hat man Wege gefunden, sich mit dem anderen zu arrangieren und Konflikte zu lösen bzw. ihnen vorzubeugen. Sich den Platz mit Anderen zu teilen ist aber auch eine großartige Gelegenheit, neue Freunde zu finden und sich ein vertrautes Umfeld aufzubauen, vor allem wenn man aus dem Ausland kommt und vielleicht nicht direkt weiß, wie und wo man Anschluss finden kann.
Uni-Alltag in den USA
Eigentlich hätte ich an der Orientierung/Einführung für internationale Studenten teilnehmen sollen, aber da ich zu spät gekommen bin, habe ich diese leider verpasst. Dadurch bin ich direkt in den regulären Uni-Alltag eingestiegen. Dieser bestand vor allem aus dem Besuchen meiner Kurse, dem Baseball-Training und Hausaufgaben. Dabei hatte ich je nach Semester zwischen vier und sechs Kurse, was 12 bis 18 50-minütigen Unterrichtsstunden entspricht. Die Zeit, die man in den Kursräumen selbst verbringt, ist überschaubar, aber man hat meistens jeden Tag zwei bis drei Aufgaben zu tun, die am nächsten Tag fällig sind. Generell hat sich die akademische Seite sehr wie die Schule hier angefühlt, nur weniger anspruchsvoll, mit ziemlich wenigen freien Schreibaufgaben und vielen Multiple-Choice-Tests. Allerdings kann sich die Arbeit auch leicht stauen und für lange schlaflose Nächte sorgen, wenn man sich nicht konstant um seine Aufgaben kümmert. Besonders als Sportler ist meistens der Großteil des Nachmittags mit Training belegt, sodass unter der Woche nur der Abend und kurze Zeitfenster vormittags zum Erledigen der Hausaufgaben bleiben. Gutes Zeitmanagement ist also essenziell, wenn man nicht chronischen Schlafmangel und vielleicht noch eine Koffeinsucht dazu entwickeln will (ein paar lange Nächte werden aber wohl nicht zu vermeiden sein).
Der Weg von Heimweh bis zum „home away from home“
Das richtige Einleben in die Gemeinschaft hat bei mir etwas länger gedauert. Ich habe zwar immer viel Zeit mit meinen Teamkollegen verbracht und kannte deswegen auch Leute, aber außerhalb des Sports habe ich am Anfang nicht viel Zeit mit Anderen verbracht. Dadurch habe ich mich zunächst einsam gefühlt (dazu kam noch, dass wegen COVID-19 noch Einschränkungen bestanden) und habe auch mit Heimweh gekämpft. Das beste Mittel gegen Heimweh war für mich, unter Leute zu gehen und dort eine Gemeinschaft zu finden, bei der ich mich heimisch gefühlt habe. Bis ich diese Gemeinschaft hatte, die mir ans Herz gewachsen war, habe ich mich auch immer total auf die Ferien gefreut, wo ich nach Hause konnte. Aber als ich dann viele wirklich gute Freunde gefunden hatte, habe ich mich dort auf dem Campus genauso zu Hause gefühlt, wie in meiner Heimatstadt („I had found a home away from home“).
Die amerikanische Kultur im mittleren Westen ist sehr anders als die deutsche Stadtkultur, in der ich aufgewachsen bin. Die Menschen sind sehr höflich und schrecken nicht vor Gesprächen mit Fremden zurück, wohingegen ich eine verschlossene Art gewöhnt war, bei der jeder sich in der Öffentlichkeit auf sich selbst konzentriert und Interaktionen mit unbekannten Personen meidet. Deswegen war ich zunächst sehr positiv überrascht von der Offenheit der Leute, deren Interesse an mir und von der allgegenwärtigen Begrüßungsfloskel „how´s it going?“. Allerdings wurde mir doch schnell klar, dass die dortige Umgangsform sehr anders als hier ist. Ich hatte meine Kenntnis deutscher Umgangskultur auf die Menschen dort übertragen und deswegen unrealistische Erwartungen gehabt. Als dieselben Leute sich dann in anderen Situationen nicht so verhielten, wie ich es von potenziellen Freunden erwartet hätte, war ich enttäuscht und sogar sauer. Jemand der in Deutschland so nett zu mir wäre, hätte sehr wahrscheinlich ein Interesse daran, eine Freundschaft mit mir aufzubauen, wohingegen dieser Umgang für die Amerikaner dort alltäglich ist, und sie diesen nicht unbedingt mit Freundschaft in Verbindung bringen. Dadurch entsteht unter Umständen eine gewisse Umkehr der Verhältnisse. In Deutschland mag es schwerer sein, schnell Leute kennenzulernen, aber wenn man mit jemandem ins Gespräch kommt, dann kann man meistens schnell ein freundschaftliches Verhältnis aufbauen. In den USA hingegen ist es meistens sehr leicht, ein Gespräch mit jemandem zu beginnen, aber schwerer zu deuten, ob diese Person einen in seinen Freundeskreis aufnehmen möchte. Genauso sind viele Menschen dort sehr zielorientiert und legen nicht immer viel Wert auf ausgiebige, gemütliche Zeit mit Anderen, sondern sind gerne schnell da und dann wieder weg, z. B. beim Essen. So war ich oft der Letzte am Esstisch, weil alle anderen irgendwelche Aufgaben zu tun hatten, und keine fünf Minuten länger auf mich warten wollten. Diese Beispiele mögen in Isolation nicht sehr wichtig wirken, aber es sind die kleinen Unterschiede, die einem immer wieder im Alltag begegnen, die einen daran erinnern, dass man nicht zu Hause, sondern doch im Ausland ist, und nicht alle sozialen Normen kennt, was das Gefühl, ein Außenseiter zu sein, wecken kann.
Als introvertierter Mensch Anschluss finden
Und doch habe ich trotz dieser anfänglichen Schwierigkeiten viele wunderbare Menschen kennengelernt, die ich nie vergessen werde, die immer zur Stelle waren, wenn ich sie brauchte, auf die ich mich verlassen konnte, und mit denen ich viele schöne Momente erlebt habe. Diese Menschen habe ich aber nur kennengelernt, weil ich mich selbst dazu entschieden hatte, unter Leute zu gehen und den Kontakt zu anderen zu suchen, obwohl ich nicht alle Aspekte der Kultur direkt verstanden habe. Wenn man den gleichen Leuten auf dem Campus immer wieder begegnet und öfters ins Gespräch kommt, dann wird man auch merken, ob diese Leute einen mögen und ob man sie überhaupt mag. Am wichtigsten ist es, den Mut zu haben, sich in das Unbekannte zu stürzen, neue Erfahrungen zu machen, und dadurch zu lernen. Ich bin als introvertierter und scheuer Mensch in das Studium gegangen, aber durch die vielen Erfahrungen in einer komplett fremden Kultur habe ich gelernt, schneller mit Menschen Kontakt zu knüpfen, und auch wie wichtig und bereichernd Freundschaften sind. Meine schönsten Erinnerungen sind die vielen tiefgründigen Gespräche, die ich mit Menschen jeglichen Alters, jeglicher Herkunft, jeglicher Religion geführt habe. Von den Erfahrungen und Ideen anderer Leute mit unterschiedlichen Lebensläufen und einer unterschiedlichen Weltanschauung zu hören ist extrem wertvoll, um nicht nur Andere zu verstehen, sondern auch sich selbst, was man glaubt, was man will, und wer man sein will.
Nichts bereuen
Zu Beginn meines letzten Studienjahres habe ich mir gesagt, dass ich nicht bereuen will, meine Zeit nicht voll ausgekostet zu haben. Deshalb habe ich zuletzt versucht, alle möglichen Erfahrungen noch mitzunehmen, um nicht am Ende gehen zu müssen und etwas, das ich gerne gemacht hätte, nicht gemacht zu haben. Das war sehr wichtig, um meine Zeit dort in Frieden abschließen zu können. Der Abschied war trotzdem schwer und ich hatte immer wieder einen kleinen Klos im Hals bei dem Gedanken, was ich alles bald würde verlassen müssen. Gleichzeitig hatte ich in Deutschland vieles auf das ich mich freuen konnte. Das war wichtig für einen leichteren Übergang, sodass ich direkt wieder in mein Leben in Deutschland einsteigen konnte. Durch meine Erfahrung im Ausland sehe ich mein Umfeld hier nun mit anderen Augen. Immer wieder habe ich die Umstände dort vor Augen und kann so beide Welten vergleichen, was mir hier mehr oder weniger gefällt. Man kann wohl sagen, dass ich durch mein Studium im Ausland nicht nur ein anderes Land kennengelernt habe, sondern auch mein eigenes Land besser kennengelernt habe. Ich kann jedem, der darüber nachdenkt, nur empfehlen, sich auf das Abenteuer eines Auslandsstudiums einzulassen. Ich habe es nicht bereut, und ihr werdet es auch nicht.

